Aleviten kennen keine Trennung zwischen Gott und einer von ihm erschaffenen Welt. Das Universum ist hier die Ausstrahlung der göttlichen Substanz selbst. In diesem Sinne kennt die alevitische Lehre streng genommen keinen Schöpfergott, sondern die Schöpfung als ein Bestandteil des Göttlichen.
Aleviten glauben an einen und den einzigen Schöpfer und dessen Gesandten Mohammed und Ali als Wegweiser. Sie bekennen sich zu Gott als den Schöpfer und sprechen von einer liebevollen Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Yunus Emre, der türkischsprachige Mystiker aus dem 13. Jh. beschreibt diese Beziehung in einem seiner berühmten Gedichte:
Yaradilani Severiz,
Yaradandan ötürü
Wir lieben das Geschaffene
Ja um des Schöpfers willen!
Die Aleviten glauben an die heilige Kraft des Schöpfers, die an Menschen vor allem durch Mohammed und Ali (seinen Schwiegersohn und 4. Kalif), sowie durch ihre Nachkommen bis heute übertragen wird. Die heilige Kraft hat danach jeder Mensch, sei er Alevit oder Christ, Mann oder Frau. Der Mensch ist das vollkommenste und schönste Lebewesen im Universum. Seine Schönheit und Schöpfermacht zeigt Gott durch den Menschen. Hiernach wird der Mensch als (yansima) Widerspiegelung Gottes betrachtet.
Ich bin das Innere und das Äußere
Der Ursprung und die Zukunft
Ich bin das Er und das Er ist das Ich
Ich bin das Erhabene
Hem batiniyem, hem zahiriyem
Hem evvelim hem ahirim
Hem ben oyum hem o benim
Hem O kerim-i han benim
Yunus Emre
Viele alevitische Gelehrte und Dichter formulierten diesen Schöpfungsglauben mit dem Spruch: En-el Hak; ich bin identisch mit Gott, ich bin ein Teil des Göttlichen und ich bin das Spiegelbild des Gottes; d.h.: meine Eigenschaften sind die Eigenschaften des Schöpfers.
Im Alevitentum wird der Mensch als ein Wesen begriffen, daß das Potential des Göttlichen in sich trägt. Seine Erlösung ist mit der Erkenntnis dieses Potentials verbunden. Das Ziel, wohin die tausendundeine alevitischen Pfade führen, ist das Erlangen dieser Erkenntnis. Die Aleviten glauben, daß der Mensch seine heilige Kraft durch den richtigen Weg wiederentdecken kann. Am Ende dieses Prozesses kann der einzelne Mensch sich mit Gott wiedervereinigen, wenn er seine Wunderkraft wiederentdeckt hat. Für den Aleviten ist der Mensch mit Hilfe seines Verstandes fähig, den Schöpfer zu erkennen und selbständig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; somit ist der menschliche Verstand „Can“ bzw. die „Seelen“ der Gemeinschaft für Aleviten eine Quelle der Offenbarung. Der Weg der Menschwerdung wird den Aleviten in der Lehre gezeigt. Zu Gott beten sie nicht aus Furcht vor der Hölle oder aus Hoffnung auf das Paradies, sondern um seiner ewigen Schönheit willen. Die alevitische Lehre erwähnt nicht, daß die Wohltaten (hayir) und bösen Taten (ser) Gottesbefehl wären.
Die Aleviten sprechen ebenso von den vier Toren und vierzig Geboten, die der Mensch zu durchschreiten habe, wenn er seine Bestimmung auf Erden gerecht werden wolle. Sie sprechen von den Toren Schariat, Tarikat, Marifet und Hakikat. Diese Begriffe bezeichnen unterschiedliche Ebenen des Glaubens und des Erlebens, die jedoch in der Weise einander zugeordnet sind, daß die jeweils höhere Stufe erst nach dem Durchschreiten der vorherigen Stufe betreten werden kann. Tarikat setzt Schariat voraus; Tarikat ist die höhere Form der Schariat, die höchste Form menschlichen Denkens und Tuns wird in der Hakikat erreicht. Die vier Stufen des Erkenntnisweges beschreiben bei den Aleviten eine immer stärker werdende Vergeistigung des Denkens und des Handels. Sie beschreiben dabei einen geistig-moralischen Weg vom Äußerlichen (zahiri) hin zum Inneren, zum Wesentlichen (batini). Auf der letzten Stufe begreift der Mensch alle Geheimnisse (innere Bedeutungen) des Weges, die Bedeutung und den Sinn des Lebens. So werden ihm alle Geheimnisse des Kosmos, der Welt, des Seins geöffnet, so daß er die letzte Stufe des Menschseins erreicht und reif wird (insan-i Kamil).
Das erste Tor – alevitische Schariat – darf nicht mit dem orhodoxen-islamischen Schariat verwechselt werden. Die sunnitische Schariat ist die Fülle gesetzlicher Verpflichtungen, die sich auf alle Lebensbereiche des Menschen erstreckt wie z.B. Kleidervorschriften bis hin zu den ebenfalls von Gott befohlenen Regeln des Wirtschaftslebens und der Strafen. Die Schariat der Aleviten erschöpft sich dagegen weitgehend nur in moralischen Vorschriften wie z.B. das Gebot des Glaubens, das Gebot, Wissen zu erlangen, das Gebot der Andacht u.a. Die Gebote lassen dem Menschen grundsätzlich seine Freiheit und schränken diese nur insofern ein, als er seine Mitmenschen nicht beschädigen, sondern ihnen gegenüber barmherzig sein soll.
In der sozio-religiösen Ordnung gliedert sich die alevitische Gesellschaft in zwei getrennte Gruppen: Auf der einen Seite stehen die Laien, die Talip (das heißt Strebende) genannt werden. Auf der anderen Seite stehen die Dede bzw. mürsid, was Leiter oder Lehrer bzw. Meister und Wegweiser heißt, und die spirituelle und soziale Führung innehaben. Die Beziehung zwischen Meister und Schüler wird als eine kooperative Suche nach Gott verstanden. Hand in Hand und die Hand zu Gott (el ele, el hakka) lautet das entsprechende Leitwort.
Dem Dede als religiöses Oberhaupt obliegt es, den Gülbang – Rosenruf auszusprechen, Rituale auszurichten und zu leiten, Konfliktfälle zu schlichten, Strafen – je nach Härte – zu verhängen und jedem in Not geratenem Laien beizustehen. Das kollektive Werte– und Rechtsempfinden der Gemeinde entscheidet, ob der Missetäter gestraft wird. Der Cem wird mit einem des Dede eingeleitet und beendet.
Der Rehber, der Wegweiser, ist der beständig am Ort, im Dorf weilende religiöse Lehrer und der Schlichter kleiner Streitigkeiten.
Ein weiteres System sozialer Sicherung, Kontrolle und Förderung gemeinschaftlicher Lebensformen stellt die Institution der Müsahiplik Wahlverwandschaft bzw. Wegbruderschaft, dar. Dabei treten zwei Ehepaare in ein lebenslanges Verhältnis von gegenseitiger Verantwortlichkeit. Diese wiegt schwerer als jene für die leibliche Verwandtschaft, denn sie fordert absolute Solidarität, Teilen von Hab und Gut und das Miteintreten für die Verfehlungen des Müsahip–Partners. Diese Beziehung wird auch Jenseits- oder Weggeschwisterschaft bezeichnet, da beide auf des anderen Treue zum Weg des Alevitentums achten. Die Müsahip-Partner sollten möglichst gleichaltrig sein und in ähnlichen sozialen u. wirtschaftlichen Verhältnissen leben. In dieser Institution begegnen wir wiederum der Idee von der Einheit der Gemeinschaft. Im Gelöbnis der Müsahip heißt es entsprechend: „Aus vier Herzen eines gemacht, wir wollen in den Weg (Muhammed–Alis) treten (dört gönül bir ettik, yola girmek istiyoruz)“. Dieses System garantiert über die natürliche Blutsverwandschaft hinaus den Zusammenhalt der Gemeinschaft und kann gleichzeitig eine Garantie dafür sein, daß der feudale Egoismus einer einzelnen Sippe (Familienverband) nicht die ganze Gemeinschaft zerstört.
Zentrales Moment des gesellschaftlich religiösen Lebens der alevitischen Gemeinschaft, ist der Ayin-i Cem, das Gemeindeversammlung genannte Ritual. Man könnte den Begriff auch mit „Zeremonie der Union“ übersetzen. Einzelne Sequenzen der Ayin-i Cem stellen eine Reinszenierung der legendären Himmelfahrt (mirac) des Propheten Muhammed dar. Dieses Ritual ist symbolischer Ausdruck der kommunalistischen und am Menschen orientierten Prinzipien der alevitischen Ethik. Dieses Ritual kann nur als Versammlung der ganzen alevitischen Gemeinschaft verstanden und nur als Versammlung der Gemeinschaft erlebt werden. Um die Eigenständigkeit zu dokumentieren und zu bewahren, ist der Cem als diejenige Institution zu deuten, die in der Opposition gegen den sunnitischen Islam und das Ringen der Aleviten um die Selbständigkeit am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Der Cem will in allen Einzelheiten ihres Ablaufs im Grunde nichts anderes zeigen als die Tatsache, daß alle Aleviten eine selbständige religiöse Gemeinschaft sind, deren Glieder in einem gemeinsamen Glauben verbunden sind und in dem Bestreben, füreinander und miteinander da zu sein, das gleiche Schicksal zu teilen.
Damit der Cem abgehalten werden kann, muß die öffentliche Befragung bzw. die öffentliche Beichte „Görgü“ aller Erwachsenen und initiierten Mitglieder der Lokalgemeinde erfolgen und die Eintracht unter den Gläubigern gewährleistet sein. Dabei werden Unstimmigkeiten ausgeräumt, der Zusammenhalt der Gemeinschaft wiederhergestellt bzw. bestätigt. Schließlich soll im Ritual „Eins-Sein“ mit sich, mit Gott und der Gemeinschaft erlangt werden.
In der „Zeremonie der Befragung“ lernen die Menschen, „vor ihrem Tod zu sterben.“ Dieses Sterben vor dem Tod bedeutet, die Vorwegnahme des jüngsten Gerichts. Wer auf dem Alevitischen Pfad wandelt, heißt es, soll im „Hier und Jetzt“ Rechenschaft ablegen über seine Taten und dafür vor der Gemeinschaft der Gläubigen verurteilt werden. Daß der Mensch sich in diesem irdischen Leben bewähren und seinen Lohn oder seine Bestrafung nicht im Jenseits erwarten soll, findet seinen poetischen Ausdruck in zahlreichen religiösen Hymnen.
Aus dem Kreis der Laien werden die Klagen vorgebracht und alle Anwesenden können einen Kommentar zu dem Vorfall abgeben, entweder auf Strafe plädieren oder Gnade gelten lassen. Die härteste Strafe ist dabei für sittliches Verderben, das einen Ausstoß aus der Gemeinschaft zur Folge hat. Für die Zeit der Andacht, die die ganze Nacht hindurch dauern kann, sind alle Unterschiede, die die Gläubigen im sozialen Alltag voneinander trennen, ausgelöscht. „Wenn Cem ist“, heißt es „gibt es keine Großen und Kleinen, keine Schönen und Häßlichen, keine Frauen und Männer – sie alle sind Eins“. Die Zeremonie wird auch als Versammlung der Seelen bezeichnet. Folgerichtig kennt das Alevitentum auch keine Lehre, die sich auf die Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau bezieht.
Nach der Befragung beginnt der feierliche Abschnitt (Ikrar bzw. nasip), dem Weg (yol) des Alevitentum zu folgen, das Ritual der zwölf Dienste (oniki hizmet). Sie werden von Dede, Rehber und den Helfern aus der Gemeinschaft übernommen. Die zwölf Dienste sind eine Abfolge von Gebeten und Segenssprüchen, Belehrung durch den Dede, rituellen Umtrunk und dem Opfermahl; begleitet wird dies von rituellen religiösen Hymnen. Fester Bestandteil des Rituals sind zudem Tänze, sog. Semah (siehe unten). Das gemeinsam vorbereitete Essen, das Opfermahl wird als Zeichen der Einheit und Solidarität am Ende des Gebets gleichmäßig verteilt und gegessen. Bevor das Mahl verzehrt wird, wird das Friedenswasser (riza suyu) getrunken. Die Voraussetzung dafür ist die Versöhnung aller Bewohner und Mitglieder einer Gemeinde und der Abschluß der Görgü-Zeremonie.
Die Zeremonie und die Lehre sind so miteinander verknüpft, daß die Zeremonien als Vermittlung und Symbolik dienen. An diesen Zeremonien nimmt die ganze Gemeinschaft teil – abgesehen von den in den Versammlungen vorbestraften Menschen, denen die Zeremonie verschlossen bleiben – auch Kinder, die dort die Lehre als natürliches Ereignis lernen und mitmachen.
Der Semah ist ein Ausdrucksform der Liebe, der Richtung, Gott im Menschen zu finden, der Suche nach dem Menschen über den Mann-Frau-Unterschied hinaus mittels Tanz und Musik. Im Semah hat sich das Temperament des anatolischen Menschen, seine Trauer und Klage in die Musik umgewandelt; und seine Sehnsucht in die Bewegungen. In einer Phase des Semah tanzt man von Angesicht zu Angesicht und zum Inneren gerichtet. Während der Bewegungen berühren sich die Körper nicht und der Rücken wird nicht dem Gesicht des Menschen gekehrt. In dieser Phase tragen der Körper und das Gesicht keine gewöhnlichen Eigenschaften, vielmehr sind diese Körperteile ein Abbild des Gottes und gelten als heilig.
Der Bestattungskult ist, wie alle anderen alevitischen Zeremonien, von dem Anliegen getragen, gemeinschaftsintern den sozialen Frieden zu wahren. An der Totenbahre versammeln sich der Dede oder Rehber sowie die Gemeinschaft. Jeder hat nun die Möglichkeit, noch offene Schuldverhältnisse, seien sie materieller oder immaterieller Art vorzubringen. Der Müsahip – also der Wegbruder oder ein naher Verwandte des Verstorbenen – nimmt die Schuld auf sich. Sie wird abgeglichen, und sei es durch einen Verzichtserklärung des Fordernden. Erst dann gelten die Bande zwischen dem Verstorbenen und den Lebenden als gelöst.
Das Fasten im Trauermonat Muharrem wird zum Gedenken an die 12 Imame und das Pogrom von Kerbela gehalten. Das alevitische Fasten fordert für 12 Tage und Nächte vor allem mögliche Enthaltsamkeit von jeglicher Zurückhaltung von Flüssigkeit und Feiern. Höhepunkt und Abschluß des Fastens ist der Asure-Tag, der mit symbolträchtigen Speisen und Traueroden begangen wird. Vor und während der Islamisierung symbolisierte der Asure-Tag die Rettung von Noah und den Gläubigen. Nach dem Kerbela-Massaker wurde es zum Andenken der Ermordung von Hüseyin und seinen Weggefährten umgewandelt.
Das viertägige Opferfest erinnert an Ibrahim (Abraham) und an seine Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern. Der Höhepunkt des Festes ist das im Rahmen der Familie und Gemeinde gehaltene Festmahl, für das ein Hammel geschlachtet und gemeinsam – oft mit der Familie, den Weggefährten und Nachbarn – gegessen wird. Das Fest ist für Aleviten ein besonderer Anlaß, auch an Arme und Bedürftige zu denken und ihnen Geschenke zu machen. In Deutschland wird dieses Fest in großen Sälen oder in den Räumen der Kulturgemeinden gemeinsam gefeiert. Bevor das verteilte Essen gemeinsam gegessen wird, fragt der Älteste oder der Dede der Gemeinde nach dem Einverständnis aller Beteiligten, ob sie miteinander versöhnt sind.
Jedes Jahr wird die Woche von Ende Januar bis Anfang Februar als die Woche des Hizir gefeiert und anschließend 3 Tage gefastet. Nach dem alevitischen Glauben symbolisiert das Hizir-Fasten die Danksagung des bei Sintflut in der Arche-Noah flehenden Volkes. Nach ihrer Rettung fasteten die Menschen zu Ehren des Propheten Hizir. Zeitgleich mit Hizir wird auch der Prophet Ilya (Elias) genannt. Beiden Namen Hizir und Ilya begegnet man sowohl in der christlichen als auch im jüdischen Glauben. Denn beide haben den Trunk des ewigen Lebens (Abu-Kevser) getrunken.
Übersetzung: Annemarie Schimmel; Ausgewählte Gedichte von Yunus Emre, Önel Verlag, 1991
Übersetzung: Ismail Kaplan; Alevitentum von AABF Publikationen, März 1998